Vor dreißig Jahren wurde in der Stadt Leipzig Weltgeschichte geschrieben. Der Mut und der Protest unzähliger Menschen hier und in der gesamten DDR sorgten dafür, dass das SED-Regime und der so genannte real existierende Sozialismus in sich zusammenfielen. Trotz geballter militärischer und polizeilicher Präsenz am 9. und 16. Oktober 1989 fiel kein Schuss.
Der Geist der Gewaltlosigkeit aus den traditionellen Friedensgebeten der Nikolaikirche und in anderen Gotteshäusern des Landes erfasste die Herzen der demonstrierenden Menschen.
Sie waren der Diktatur überdrüssig geworden. Das Regime hatte mit allem gerechnet, jedoch nicht mit Gebeten und Kerzen in friedlichen Händen. Ohne Friedensgebete in Sankt Nikolai, die hier seit der Friedensdekade „Schwerter zu Pflugscharen“ im Jahre 1982 und in anderen Kirchen stattfanden, hätte es keine friedliche Revolution gegeben. Das ist die Botschaft des Herbstes 1989 aus Leipzig.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in den Herbsttagen von 1989 in Leipzig Menschen in Polizei-Uniformen entschieden haben, nicht auf die Demonstranten zu schießen. Kaum bekannt ist, dass der Nationale Verteidigungsrat der DDR am 14. Oktober festgelegt hatte, die Großdemonstrationen in Leipzig am 16. Oktober mit allen Mitteln zu verhindern.
Die Erosion des freiheitsverachtenden Gesellschaftssystems der DDR war über viele Jahre vorangeschritten und fand schließlich im Herbst 1989 ihr Ende. Der Fall der Mauer war heute vor 30 Jahren nur noch eine Frage von wenigen Wochen.
Die Versuche, das starre, diktatorische Staatssystem demokratischer zu gestalten, inspirierten damals viele Menschen und deren neuen Vereinigungen. Die Bürgerrechtsbewegungen gaben der Unzufriedenheit der Menschen eine klare, mutige Stimme. Ungezählte Bürgerinnen und Bürger kamen hier in Leipzig zwischen den Montagsdemonstrationen zu zahlreichen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zusammen.
Die Redefreiheit hatte in diesen Tagen des Oktobers 1989 Hochkonjunktur. Der intensive, emotionale und vor allem friedliche Dialog in Leipzig war damals – und er ist es auch aus heutiger Sicht – eine wertvolle Erfahrung, wie Menschen unterschiedlichster Auffassung um Lösungen ringen können – in Respekt und fair miteinander streitend.
Der seit vielen Monaten anhaltende Exodus hunderttausender Menschen in die Bundesrepublik zeigte bereits seit dem Frühjahr und Sommer des Jahres 1989 unweigerlich das Ende der SED-Herrschaft an.
Das Gefühl und die tatsächliche Situation der hier Verbleibenden, in Mauern und Stacheldraht eingesperrt zu sein, provozierte die SED-Führungsgremien zu einem Vorschlag für ein neues Reisegesetz. Das wurde in panischer Angst von den SED-Oberen ohne Einhaltung ihrer eigenen üblichen Scheindemokratie in Kraft gesetzt:
Der Fall der Mauer am 9. November 1989 war das Präludium für das Ende des „Arbeiter- und Bauernstaates“. Das Tor zur Deutschen Einheit wurde weit aufgestoßen.
Die ab 1990 folgenden, gravierenden Prozesse in Wirtschaft, Politik, Staat und Gesellschaft waren für die Bürgerinnen und Bürger im Osten mit Entbehrungen und drastischen Veränderungen wie auch mit ungeahnten Chancen verbunden.
Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass viele Menschen im Osten den politischen und gesellschaftlichen Wandel nur schwer oder gar nicht verkraftet haben. Die dramatischen Brüche in den persönlichen Biografien vieler Betroffener wirken in deren Erinnerungen und in ihren Familien sowie Freundeskreisen heute noch fort.
Im nationalen Gedächtnis unseres wiedervereinten Vaterlandes müssen diese grundsätzlichen wie auch ganz individuellen Veränderungen und Schicksale einen gebührenden und anerkannten Platz erhalten.
Wir sollten heute im wiedervereinten Deutschland nicht unterlassen, alle Bürgerinnen und Bürger, die sich trotz Berliner Mauer und Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze in ihrer christlichen Überzeugung und humanistischen Verantwortung für den Nächsten einsetzten, zu würdigen.
Als Christdemokraten denken wir auch an diejenigen Menschen, die in der DDR durch redliche Arbeit ihren Lebensunterhalt sicherten, sich an Werten wie Solidarität, Frieden und Freundschaft orientierten und von den Machthabern letztlich getäuscht worden sind.
Wir würdigen alle Bürgerinnen und Bürger, die über viele Jahre hinweg gegen das Regime in unterschiedlichster Weise aufbegehrt haben. Sie erlitten zumeist vielfältige seelische und körperliche Repressalien und Benachteiligungen im alltäglichen Leben durch die Behörden der DDR. Viele von ihnen mussten ins Gefängnis oder ihre Heimat verlassen. Ihr Engagement hat den Boden für die friedliche Revolution mit bereitet.
Wir vergessen nicht, dass sich eine große Zahl der Menschen angesichts der erbarmungslosen Allmacht der SED und ihres sozialistischen Staates resigniert in ein „inneres Exil“ zurückgezogen hatten, um für sich und ihre Familien Ruhe zu finden.
Allen Bürgerinnen und Bürgern aus der Bundesrepublik, die sich während der deutschen Teilung in vielfältiger Weise für die Menschen in der DDR einsetzten, gilt mein besonderer Dank. Die langjährigen Patenschaften zwischen Kirchgemeinden, Dekanaten und Kirchenbezirken in der Bundesrepublik und in der DDR sollten nicht in Vergessenheit geraten.
Die in den achtziger Jahren vereinbarten Städtepartnerschaften zwischen Kommunen aus der Bundesrepublik und aus der DDR erhielten mit dem Mauerfall eine überraschend neue Basis für gemeinsames Handeln. Das war ein wichtiger Wegweiser für die Gestaltung der staatlichen und menschlichen Einheit Deutschlands.
Und zugleich sollten wir allen Bürgerinnen und Bürgern aus den so genannten alten Ländern danken, die sich in den zurückliegenden dreißig Jahren persönlich für den Aufbau in den neuen Bundesländern solidarisch engagierten.
Für den Aufbruch in die Welt der Demokratie und die friedliche Abkehr von einer Diktatur sowie für den Weg in ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gab es für die Akteure weder in Ost noch in West ein Lehrbuch, Regieanweisungen oder Erfahrungen. Diesen Fakt müssen wir bei der Beurteilung des gesamten Transformationsprozesses und des beispiellosen Aufbauwerkes beachten.
In der Zeit der Runden Tische ab Dezember 1989 – als ein wichtiges Kapitel der friedlichen Revolution – erprobten die Akteure in Leipzig und andernorts die Regeln der Demokratie. Die umsichtige Moderation durch Geistliche aus den evangelischen und katholischen Kirchen half immer wieder, den Dialog aufrechtzuerhalten.
Der Weg zu den ersten freien Wahlen zur Volkskammer wurde geebnet. Das klare Votum für die Allianz für Deutschland am 18. März kam schließlich für viele Menschen in der DDR überraschend. Die überdurchschnittliche Wahlbeteiligung signalisierte aber ein millionenfaches Bekenntnis zur Einheit der Nation.
Der Beschluss der Volkskammer zum Beitritt der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes besiegelte schlussendlich das Ende der SED-Diktatur. Auch aus heutiger Perspektive ist es für mich persönlich eine besondere Ehre, diesen Beschluss damals in Berlin als Abgeordnete mit gefasst zu haben.
Noch nie in der deutschen Geschichte wurde binnen eines knappen Jahres – angefangen mit den Protesten und machtvollen Demonstrationen und fortan durch ein freigewähltes Parlament – eine Diktatur abgeschafft. Dafür bin ich dankbar und ganz persönlich stolz.
Die Union steht in der Tradition der friedlichen Revolution und der Schaffung der Deutschen Einheit. Das Wissen über diese beispiellosen Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte ist ein wichtiges Fundament für die Bewahrung und die Entwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes im Herzen Europas.
Die Sicherung und die Pflege sowie Verbreitung der Kenntnisse und Erfahrungen über diese politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse helfen gegen jede Art von Populismus und gegen jeglichen politischen Extremismus.
Die Stiftung zur Aufarbeitung des SED-Regimes braucht eine stärkere finanzielle Ausstattung und eine größere Beachtung in ganz Deutschland.
Die Unionsparteien im Bundestag haben bisher vielfältige, wichtige Gesetzesinitiativen im Bereich der Rehabilitierung von Opfern aus der DDR erfolgreich realisieren können. Und: Die Stasi-Akten dürfen niemals geschlossen werden und müssen auch für kommende Generationen zugänglich bleiben.
Durch eine grundlegend verbesserte politische Bildungsarbeit in allen Sphären der Wissensvermittlung sollen die Erkenntnisse und die vielfältigen individuellen wie auch gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen vor dem Vergessen bewahrt werden.
Dazu brauchen wir auch ein nationales Dokumentationszentrum für Forschung, Lehre und für Jedermann über die Zeit der deutschen Teilung, über die friedliche Revolution und die Deutsche Einheit. Dieses Zentrum sollte anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit in Leipzig errichtet werden. Es sollte zugleich auch als inhaltliche Ergänzung zum bereits beschlossenen Einheits- und Freiheitsdenkmal dienen. Bei der Entwicklung dieses Denkmals in Leipzig darf es keinen weiteren Zeitverzug geben. Im Bundestag haben wir schon vor Jahren die entscheidenden Weichen für dieses besondere Denkmal gestellt.
Katharina Landgraf
Mitglied des Deutschen Bundestages