Der lange Gert – so nannte der Volksmund den Schornstein auf dem Gelände des Maschinen- und Apparatebaus (MAG). 150 Meter war er hoch und damit höher als Leipzigs Uniriese. Der Spitzname geht zurück auf den 2003 verstorbenen Kombinatsdirektor, Gert Wohllebe. Das Lebenswerk des einstigen Mitglieds des Zentralkomitees der SED war ausgerechnet dem späteren CDU-Kreisrat Hubertus Letzner heilig.
„Hubert, mach’ weiter so.“ Noch heute klingen dem 78-Jährigen die Worte des damaligen DDR-Wirtschaftskapitäns in den Ohren. Ingenieur Letzner, der einst als Dreher im Werk begann, erinnert sich gern an die späteren Begegnungen in der Kaufhalle: „Herr Wohllebe hatte sich sehr darüber gefreut, dass der Betrieb nach der Wende nicht platt gemacht wurde.“ Die Worte des Trägers des Vaterländischen Verdienstordens wurden für Letzner zu einer Art Vermächtnis.
Am Freitagnachmittag erhielt der Grimmaer Hubertus Letzner aus den Händen des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) den Bundesverdienstorden. Offiziell verliehen wird die Auszeichnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Neben Letzner wurden weitere 14 Sachsen geehrt. Alle hätten sich in besonderer Weise um das Gemeinwohl verdient gemacht, heißt es aus der Staatskanzlei.
Nach der Wende brach der Markt im Osten zusammen. Die MAG – der einstige Vorzeigebetrieb der DDR auf einer stolzen Fläche von 700000 Quadratmetern – wurde abgewickelt. Viele Menschen verloren ihre Arbeit. Von den in Spitzenzeiten 4800 Werktätigen blieb noch knapp ein Viertel. Auf gerade mal 20 Prozent des Standortes sollte die Produktion privatisiert, der nicht mehr notwendige große „Rest“ anderweitig vermarktet werden.
Lob von Thilo Sarrazin
Genau das war der Job von Hubertus Letzner. Als Geschäftsführer der Gewerbepark Grimma Immobilien GmbH, die später zu einer Tochtergesellschaft der Treuhand (TLG) wurde, erwirtschaftete er von 1994 bis 2007 mehr als 50 Millionen Euro, die er sofort wieder in den Standort investierte. Thilo Sarrazin, der spätere Bestseller-Autor („Deutschland schafft sich ab“) reiste damals als Geschäftsführer der TLG Berlin nach Grimma, um Letzner vor Ort zu loben.
Der einstige Landrat Gerhard Gey, 70, bezeichnet den Gewerbepark als Erfolgsstory. Auf rund 60 Hektar habe Letzner für einen bisher noch nicht gekannten „Branchenmix“ gesorgt: Produktion, Handwerk, Dienstleistungen, dazu Go-Kart-Bahn, Tennishalle, Tanzsaal sowie Fitnessstudio, Bowlingbahn und – eine Eislaufhalle. Skispringer Jens Weißflog war da. Anett Pötzsch, Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Eiskunstlauf, gab hier Kurse.
Es fanden überregionale Meisterschaften statt, die Trebsener Eishockeyspieler jagten dem Puck hinterher. Auf der von vielen bereits tot gesagten Industriebrache verhalf Letzner 1400 Menschen zu Lohn und Brot, in seinen besten Jahren hatte er 300 gewerbliche und fast 200 Wohnungsmieter. Alle Einheiten sind auch für Senioren geeignet. Die Muldentalhalle gilt als ultimativer Hotspot für größere Events in Grimma.
Das kleine Wirtschaftswunder in der sächsischen Provinz?! Letzner ist kein Freund markiger Sprüche. Er hat nie vergessen, wo er her kommt. Es sei ein großer Zufall, dass er überhaupt leben durfte. So kam der damals kleine schlesische Junge mit seiner Mutter 1945 im Flüchtlingstreck in Dresden an – ausgerechnet am Vortag des Großangriffs auf die Stadt. „Hätten wir den Zug nach Klotzsche nicht mehr bekommen, wir wären auf dem Bahnhof verbrannt.“
Retter in höchster Not
Ein Unbekannter habe sich am Bahnsteig für Mutter und Kind stark gemacht: „Alles zusammen rücken! Die Frau mit Sohn muss noch mit rein!“ Als Geschäftsführer war es Letzner, der sich für andere einsetzte. Der einstige LVZ-Verlagschef Heinrich Lillie erinnert sich an die Flut 2002, als die Grimmaer Redaktion am Markt im Schlamm unter ging: „Es war Hubertus Letzner, der uns geholfen hatte – und das nicht als Geschäftsmann, sondern als Mensch.“
Letzner stellte von jetzt auf gleich Büros zur Verfügung und habe eigenhändig Möbel geschleppt. „So war das Zeitungmachen gesichert“, ist Lillie noch heute voll des Lobes. So wie die LVZ kamen viele andere Betroffene in Süd unter. Ob Möbellager, Kleiderkammer oder als Telefonzentrale – das GGI-Gelände war Retter in größter Not. 2002 wurde Hubertus Letzner mit dem sächsischen Fluthelferorden dekoriert.
Als dem Gewerbepark 2012 selbst das Wasser bis zum Halse stand, sprang Letzner wieder ein – und das, obwohl er zu der Zeit bereits gut fünf Jahre im Ruhestand war. Auf Bitten der TLG übernahm er als 69-Jähriger noch einmal das Kommando. Ob er sich dabei körperlich zu viel zugemutet hatte? „Vielleicht“, sagt Letzner rückblickend. 2014 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Seit 2018 gilt der zweifache Großvater als geheilt.
Umso mehr genießt der Rentner heute seine Freizeit und – Freiheit. Letzner ist passionierter Motorradfahrer. Ostsee, Müritz, Fichtelberg … kein Ziel ist ihm zu weit. War er bislang vor allem Macher, so ist er inzwischen oft stiller Beobachter. Und das meist mit geschultertem Fotoapparat. Als Mitglied im Grimmaer Kunst- und Fotoverein sammelt er Preise wie andere vierblättrige Kleeblätter.
Deutscher Fotomeister 2012
Unvergessen sein Foto von Angela Merkel bei deren Wahlkampf-Rede 2009 auf dem Bornaer Marktplatz. Der Schnappschuss war der große Abräumer bei den Sächsischen Fototagen auf Schloss Colditz. „Papa sag’ mir …“ ist eine weitere Aufnahme überschrieben: „Zu sehen ist in Jerusalem ein orthodoxer Jude mit Töchterchen auf dem Weg zur Klagemauer“, erinnert sich Letzner. Für das Foto erhielt er die Goldmedaille bei der Deutschen Fotomeisterschaft 2012 in Hannover.
Ob Kindersportgruppe, Schulchöre oder Speicher – Katholik Letzner unterstützte in all den Jahren viele Initiativen: „Beispielhaft setzte er sich dafür ein, dass auf dem Gelände der Caritas in Seelingstädt aus einer ruinösen Scheune das heutige kulturelle Zentrum des Dorfes entstehen konnte“, sagt Bundestagsabgeordnete Katharina Landgraf (CDU), die sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Thomas Krafczyk seit langem für Letzners Ehrung stark macht.
Freude über hohe Ehrung
„Ich freue mich sehr über die hohe Auszeichnung“, sagt der frisch gebackene Träger des Bundesverdienstordens. Er dankt vor allem den bis zu 14 ehemaligen Mitarbeitern, ohne die das „kleine Wirtschaftswunder des Ostens“ nicht möglich gewesen sei. Bleibt nur noch die Frage, was aus dem Langen Gert geworden ist: „Der wurde 1998 zurück gebaut. Der Hubschrauber setzte auf dem Schornstein einen Bagger ab, der sich Zahn um Zahn nach unten knabberte.“